Alpengasthof in Lüsens, Sellraintal
Kristina Erhard
29. August 2017
Originalsprache des Artikels: Deutsch

Ein bisschen wirkt es wie Rohan, das Land der Berge und Reiter in Mittelerde. Oder wie eine Szene aus „Heidi“, als das kleine Mädchen das erste Mal die Alm ihres Großvaters im Blickfeld hat. Ich jedenfalls fühle mich seltsam „versetzt“, als ich durch den lichten Wald laufe und sich vor mir wie aus dem Nichts der Lüsener Talschluss öffnet – mit seiner mächtigen Wand aus silbrig schimmernden Fels, den einst der Gletscher geschliffen hat. In die Mitte gesetzt wie ein stummer Wächter: Der 3.300 Meter hohe Lüsener Fernerkogel. Nein, es ist nicht weit hergeholt, sich in der Fantasie zu verlieren. Oder zumindest für einen kurzen Moment die Gegenwart hinter sich zu lassen. Und sich in das Lüsenstal im Sellrain zu verlieben.

Von Gletschern und Almen.

Loseren Ferner 18. Jahrhundert, Lüsens, Sellrain, Innsbrcuk

Kupferstich aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert.

Vor 12.000 Jahren war das kleine Seitental des Sellrains über und über mit dichtem Eis bedeckt, auch Mitte des 19. Jahrhunderts reichte die Gletscherzunge noch weit ins Tal. Heute hat sich der Lüsener Ferner (Bezeichnung für Gletscher, abgeleitet von „firn“ = alt) bis über 2.800 Meter zurückgezogen. Aber schon im Mittelalter wurde das Tal wirtschaftlich genutzt. Ende des 13. Jahrhunderts schon nutzte das Stift Wilten die saftigen Wiesen für die Weidewirtschaft, eine erste Schwaige wurden errichtet. Diese Schwaige gibt es heute immer noch: Der Lüsener Alpengasthof in St. Sigmund wurde zwar „erst“ 1633 n. Chr. angelegt, steht aber dort, wo einst im Frühmittelalter die ersten Gebäude erbaut wurden. Selbst die Vieh- und Milchwirtschaft hat sich über die Jahrhunderte gehalten: Auf der Lüsener Alm direkt am Gasthof angrenzend produziert Sennerin Claudia würzigen Graukäse und fein „g’schmackigen“ Tilsiter. Die Alm hat sie vom Stift Wilten gepachtet, den Käse macht sie über den Sommer mit der frischen Milch ihrer Kühe, die den ganzen lieben Tag nichts anders tun, als sich an der Almwiesen gütlich zu tun.

Von Bauern und Gasthäusern. 

Es ist das Rauschen des Melachbachs und die stolze Felswand am Talschluss, die über hunderte  Meter in die Höhe ragt. Es ist die Einfachheit des Seins und die Ernsthaftigkeit der Natur, die dem Besucher in Lüsens eine Form des Friedens schenkt. Auf der orographisch linken Seite der Melach sticht das alte, irgendwie ehrwürdiges Gebäude ins Auge: Der Alpengasthof Lüsens mit seinen Wirtschaftsgebäuden, der sogenannten Lüsener Alm. Der Gasthof hat viele Attribute: Er ist der Ausgangspunkt für hochalpine Wanderungen und Skitouren in den Stubaier Alpen, er ist ein historisches Relikt, er ist aber auch weitgehend bekannt als Ort mit einer vorzüglichen Küche. Und man kann dort auch übernachten. Wer sich nur eine karge Klosterküche vorstellt, dem sei versichert: Dem ist nicht so. Vom Bauerngröstl über frischen Graukäse von der Sennerei nebenan und Apfelstrudel kann man in den historischen Gemäuern so ungefähr alles essen, was die alpine Küche so hergibt. Gleich neben dem Gasthof liegt die schon erwähnte Lüsener Alm. Hier wird Butter, Käse, Milch und Almrosen-Honig produziert. Alle Produkte kann man direkt in dem kleinen Laden bei der Sennerei kaufen. Ich habe mir ein großes Stück Graukäse gegönnt, dessen Duft auch heute noch in meinen Wanderrucksack verhaftet ist. Nur soviel: Es ist es wert.

Wissen.

Die alpine Schönheit und die Mächtigkeit der Berge im Lüsener Tal faszinierte nicht nur die Kirche, Philosophen und Bergsteiger, sondern (leider) auch die Nationalsozialisten. Dazu ein Zitat des Landeshistorikers Otto Stolz 1939 über den Alpinismus im Sellraintal: „Die Wiedervereinigung Tirols mit dem Deutschen Reiche im Jahre 1938 hat daher eine schon angeknüpfte Verbindung mit neuem Leben erfüllt und wird dies auch weiterhin tun. Mögen die vielen, welche nun aus allen deutschen Gau-en unser Tal und seine Berge besuchen und hier Freude, Kräftigung und Erholung finden werden, sich auch der tausendjährigen Arbeit erinnern, die hier deutsche Bauern geleistet haben und weiterhin leisten werden.“ Der Tiroler Gauleiter Franz Hofer baute sich im Talschluss von Lüsens eine Jagdhütte, in der er viele Sommermonate verbrachte – er und seine engsten Vertrauten. Auch heute noch wird diese geräumige Hütte im  Volksmund „Gauhaus“ genannt.

Man kann eine schöne Wanderung entlang eines Naturlehrpfads von Praxmar nach Lüsens machen (Dauer ca. 45 Minuten, kostenpflichtiger Parkplatz) oder aber direkt zum Alpengasthof Lüsens fahren und von dort in Richtung Talschluss wandern (Dauer ca. 30 Minuten).

Was es sonst noch gibt? Natur, Natur, Natur! Lüsens ist der Ausgangspunkt für die Wanderung auf das ikonische Westfahlenhaus und weiter auf einen der insgesamt 20 Dreitausender der Region. Im Winter kann man bei den richtigen Verhältnissen auf den gefrorenen Wasserfällen Eisklettern. Und: Keine Sorge, das Alpengasthaus hat auch in der kalten Jahreszeit geöffnet.

Fotocredits: Kristina Erhard, Alpenverein Innsbruck;

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